BGH v. 11.7.2023 – II ZR 98/21
Beschlüsse einer Aktiengesellschaft, die gegen satzungsmäßige Bestimmungen verstoßen und bei denen die Formvorschriften für Satzungsänderungen nicht eingehalten werden, können in jedem Fall angefochten werden. Wenn eine Anfechtungsklage in zulässiger Weise erhoben wird, ist es nicht erforderlich festzulegen, ob der Verstoß gegen die Satzung selbst bereits zur Nichtigkeit führt oder lediglich zur Anfechtbarkeit. Voraussetzung dabei ist es, dass das gleiche materielle Ziel verfolgt wird, nämlich die gerichtliche Klärung der Nichtigkeit des Hauptversammlungsbeschlusses und somit seiner Aufhebung mit Wirkung für und gegenüber jedermann. Diese kann sowohl mit einer Anfechtungsklage als auch mit einer Nichtigkeitsklage verfolgt werden.
Worum geht’s?
Die Kläger sind Aktionäre der Beklagten, einer nicht börsennotierten Aktiengesellschaft. Diese hatte in ihrer Satzung unter anderem Folgenden Passus:
„“Der Vorstand hat in den ersten drei Monaten des Geschäftsjahres für das vergangene Geschäftsjahr den Jahresabschluss (Bilanz nebst Gewinn- und Verlustrechnung sowie Anhang) und den Lagebericht aufzustellen und dem Abschlussprüfer vorzulegen. Unverzüglich nach Eingang des Prüfungsberichts des Abschlussprüfers hat der Vorstand den Jahresabschluss, den Lagebericht des Vorstandes und den Prüfungsbericht des Abschlussprüfers dem Aufsichtsrat mit einem Vorschlag über die Verwendung des Bilanzgewinnes vorzulegen.“
Im Jahr 2019 wurden die Jahresabschlüsse und Lageberichte der Firma für die Jahre 2017 und 2018 nachträglich überprüft, weil der Vorstand dies beantragt hatte und ein Abschlussprüfer vom Gericht bestellt wurde. Dabei stellte sich heraus, dass der Jahresfehlbetrag für 2017 von ungefähr 21.000 € auf ungefähr 38.000 € angestiegen ist. Für die Jahre vor 2017 fand keine Überprüfung statt. Auf einer daraufhin stattfindenden Hauptversammlung im Dezember 2019 wurde neben einer Änderung des streitigen Satzungsteils, die es dem Vorstand ermöglicht, in Zukunft zu entscheiden, ob die Jahresabschlüsse und Lageberichte überprüft werden sollen oder nicht, Folgendes beschlossen:
„Soweit nach der Satzung in ihrer derzeitig gültigen Fassung eine Prüfung von Jahresabschlüssen sowie Lageberichten verpflichtend vorgeschrieben ist, wird auf eine Prüfung der Jahresabschlüsse sowie der Lageberichte für bereits abgeschlossene Geschäftsjahre verzichtet, soweit keine gesetzliche Prüfpflicht besteht.“
Dieser Beschluss wurde mit 482.778 Ja-Stimmen und 10.506 Nein-Stimmen angenommen.
Die Kläger stimmten jedoch dagegen und erklärten zudem ihren Widerspruch gegen den Beschluss zur Niederschrift des notariellen Protokolls.
Es wurde gegen diesen und drei weitere bei dieser Hauptversammlung gefasste Beschlüsse Klage erhoben. Diese war gerichtet auf Nichtigerklärung, hilfsweise Feststellung.
Das angerufene Landgericht erklärte daraufhin nur einen der anderen Beschlüsse, der auf die Änderung der Vergütung der Aufsichtsratsmitglieder gerichtet war, für nichtig; nicht jedoch den Beschluss bezüglich der hier streitigen abgeänderten Satzung. Das OLG hat die Berufung der Kläger, die sich nur auf den Angriff gegen die Entscheidung zur hier dargelegten Beschlussfassung konzentrierte, zurückgewiesen. Jedoch hat der Bundesgerichtshof auf die Revision der Kläger das Urteil des Oberlandesgerichts aufgehoben und teilweise die Entscheidung des Landgerichts geändert. Dabei wurde der Beschluss, der auf der ordentlichen Hauptversammlung der Beklagten im Dezember 2019 gefasst wurde und den Verzicht auf eine Prüfung der Jahresabschlüsse für vergangene Geschäftsjahre betraf, für nichtig erklärt.
Die Entscheidungsgründe:
Der Beschluss, der auf der Hauptversammlung der Beklagten im Dezember 2019 gefasst wurde und auf eine Prüfung der Jahresabschlüsse sowie der Lageberichte für die Geschäftsjahre vor 2017 verzichtet, wird als nichtig erklärt. Dies begründet sich in seinem Widerspruch zur Satzung der Beklagten.
Er verstößt gegen § 21 Abs. 1 Satz 1 a.F. der Satzung der Beklagten. Gemäß dieser Vorschrift ist der Vorstand dazu verpflichtet, innerhalb der ersten drei Monate des Geschäftsjahres einen Jahresabschluss sowie einen Lagebericht zu erstellen und dem Abschlussprüfer vorzulegen. Der angefochtene Beschluss widerspricht diesem Gebot jedoch, indem auf eine Abschlussprüfung für die Geschäftsjahre vor 2017 verzichtet wird. Im Gegensatz zur Auffassung des Berufungsgerichts stellt dieser Hauptversammlungsbeschluss somit nicht nur eine Entscheidung darüber dar, wie mit einem rückwirkenden Verstoß gegen § 21 a.F. der Satzung durch die Verwaltung umgegangen werden sollte, sondern verstößt inhaltlich auch gegen die Satzung selbst.
An dem Satzungsverstoß ändert auch der Umstand nichts, dass der Vorstand der Beklagten eine unrechtmäßige Praxis eingeführt hat, indem er entgegen § 21 Abs. 1 Satz 1 a.F. der Satzung den Jahresabschluss und den Lagebericht nicht dem Abschlussprüfer vorgelegt hat.
Das rechtswidrige Verhalten des Vorstands hat keine Auswirkungen auf die Gültigkeit oder den Inhalt der bestehenden Satzung. Eine faktische Änderung der Satzung ist nicht möglich. Die zeitgleiche Änderung von § 21 der Satzung der Beklagten, die auf der Hauptversammlung vom 20.12.2019 beschlossen wurde, kann bereits deshalb keinen Einfluss auf die vorliegende Beschlussprüfung haben, da sie ausdrücklich nur auf zukünftige Geschäftsjahre abzielt.
Der Verzicht auf Abschlussprüfungen vor 2017 durch den Beschluss ist nicht wirksam als „punktuelle Satzungsdurchbrechung“ legitimiert. Solche Durchbrechungen sind grundsätzlich möglich, wenn sie eine spezifische Regelung betreffen und sich auf die jeweilige Maßnahme beschränken. Allerdings bleiben sie anfechtbar. Zustandsbegründende Satzungsdurchbrechungen, die Dauerwirkung haben, sind nur gültig, wenn die Formvorschriften für Satzungsänderungen auch eingehalten werden.
Die Notwendigkeit, die Rechtsfigur der Satzungsdurchbrechung neben der Satzungsänderung (§§ 179 ff. AktG) und der Satzungsverletzung (§ 243 Abs. 1 AktG) zu erhalten, sowie die Unterscheidung zwischen punktueller und zustandsbegründender Durchbrechung werden im Kontext des Aktienrechts in Frage gestellt. In diesem Fall ist eine vertiefte Analyse aufgrund der zulässig erhobenen Anfechtungsklage nicht erforderlich. Gemäß der vorherrschenden Meinung wird bei Aktiengesellschaften jedenfalls die Anfechtbarkeit angenommen, wenn nicht bereits die Nichtigkeit oder Unwirksamkeit eines Hauptversammlungsbeschlusses festgestellt wird, der gegen eine körperschaftsrechtliche Satzungsbestimmung verstößt und nicht im Handelsregister eingetragen ist. Wenn eine Anfechtungsklage zulässig erhoben wurde, ist es nicht notwendig zu entscheiden, ob der Satzungsverstoß zur Nichtigkeit oder nur zur Anfechtbarkeit führt, da das materielle Ziel beider Klagen darauf abzielt, die Nichtigkeit des Hauptversammlungsbeschlusses festzustellen und ihn somit mit Wirkung für und gegenüber jedermann aufzuheben.